Titel
In Räume geschriebene Zeiten. Nationale Europabilder im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe II


Autor(en)
Kotte, Eugen
Reihe
Schriften zur Geschichtsdidaktik
Erschienen
Anzahl Seiten
508 S.
Preis
€ 45,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Toralf Schenk, Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena

Eugen Kotte stellt vor dem Hintergrund des Systemwechsels in den mittel- und osteuropäischen Ländern und des fortsetzenden europäischen Integrationsprozesses die grundlegende Frage nach der Zukunft eines Geschichtsbewusstseins im historisch-politischen Unterricht. Die Transformation von der nationalen zur europäischen Ausrichtung bedeute faktisch das Ende der verengten Perspektive der nationalen Geschichtsschreibung. Dieses Ende führe zugleich zu der günstigen Gelegenheit, das Europaverständnis im Geschichtsunterricht neu zu definieren. Die nationale Geschichtsschreibung habe lange Zeit das Ziel verfolgt, das Werden der eigenen Nation in Abgrenzung zu anderen Völkern zu untersuchen, was zu Abgrenzung und Ressentiments geführt habe. Im Zuge der europäischen Integration der vergangenen Jahrzehnte erscheint jedoch die Erziehung zu Fremdverstehen, die zum Abbau von Feindbildern führt, notwendiger denn je. Der Aufbau eines reflektierten demokratischen Identitätskonzeptes stelle daher die Geschichtsdidaktik im 21. Jahrhundert vor eine neue, nicht zu unterschätzende Herausforderung, woraus sich Konsequenzen für die Lehr- und Lerninhalte des Geschichtsunterrichts ableiten lassen.

Die in Augsburg vorgelegte Habilitationsschrift stellt in mitteleuropäischen Ländern dominante Europabilder vor und liefert eine Bestandsaufnahme über die Berücksichtigung der europäischen Dimension in aktuellen Curricula und Schulgeschichtsbüchern, die durch entsprechende Unterrichtsentwürfe für die Sekundarstufe II ergänzt werden. Dieses ambitionierte Vorhaben äußert sich in einer über 500 Seiten umfassenden, sehr detaillierten und in sechs Kapitel untergliederten Monographie, deren Anhang neben einem umfangreichen Literaturverzeichnis (S. 461-496) auch ein hilfreiches und ausführliches Stichwortverzeichnis (S. 497-508) umfasst.

Nach einer zehnseitigen Einführung nähert sich Kotte im ersten Kapitel dem Europabegriff. Auf die Frage „Welches Europa soll es sein?“ (S. 21) folgt das Zitat Fouchers, das dem Buch auch seinen Namen gab. „Die Grenzen Europas sind […] in Räume geschriebene Zeiten.“ Im weiteren Verlauf verschwimmt jedoch die räumliche und diachrone Dimension des Europabegriffes zusehends. Dass dies der Fall ist, bemerkt der Autor selbst, da seiner Ansicht nach Europa das Produkt heterogener nationaler Europavorstellungen ist, welche die eigenen nationalen Mythen stärken. Ausgehend von europäischen Geschichtsbildern und nationalen Europavorstellungen verschiedener historischer Perioden kommt der Autor im weiteren Verlauf zu dem Schluss, dass sich weder Kunststile oder geistige Bewegungen noch Institutionen als konstitutive Elemente europäischer Zivilisation oder gar europäischer Geschichte eignen. Ähnlich kritisch geht er mit dem Leitspruch der Europäischen Union „In Vielfalt geeint“ um. So besteht seiner Ansicht nach ein Dilemma zwischen der von außen wahrgenommenen Einheit Europas und der Realität nationaler Entwicklungen in Europa, die sich letztlich in den Geschichtsbildern manifestieren. Demnach könne auch kein europäisches Bewusstsein konstruiert oder der europäische Bürger konditioniert werden. Um herauszufinden, ob in der Geschichte Europas dennoch eine europäische Identität entdeckt werden kann, lenkt er auf den folgenden Seiten den Blick auf die Werte, Wahrnehmungsmuster und Handlungsnormen, die ein Bewusstsein der Gemeinschaft ermöglichen könnten. Bei der Frage, ob Europa im Unterricht wenigstens als Wertegemeinschaft tauge, kommt er zu dem Schluss, dass zwar die Kultusministerkonferenz (KMK) 1990 die Herausbildung eines europäischen Bewusstseins als pädagogische Aufgabe der Schule zuordnete, diese jedoch ausschließlich auf kognitive Lernziele beschränkt war. Er plädiert dafür, dass der Wandel der Europavorstellungen Auswirkungen auf die damit verbundene Wertevermittlung haben muss und fordert daher anstelle einer statischen und dauerhaft gültigen Wertordnung die Berücksichtigung der Dynamik der Werteverschiebung im handlungsorientierten Unterricht. Dies fördere wiederum die Kritikfähigkeit, Mündigkeit und das selbst erwählte Engagement der Schüler (vgl. S. 56).

Im zweiten Kapitel fasst Kotte die Initiativen des Europarates, der Europäischen Union und der KMK zusammen (S. 59-116), in denen unter anderem Aktivitäten zur Förderung eines europäischen Bewusstseins auf der Grundlage kultureller Diversität vorgestellt wurden. Im dritten Kapitel greift er die deutsche Sichtweise auf die europäische Dimension der historisch-politischen Bildung auf (S. 117-167) und rekapituliert detailliert die bundesdeutschen Initiativen der Nachkriegszeit und die fachdidaktische Literatur. Im Kapitel vier untersucht der Autor Europa als Gegenstandsfeld in den Curricula der verschiedenen Bundesländer und den Schulgeschichtsbüchern (S. 169-319) und dekonstruiert dabei wiederholt die teleologischen Geschichtsbilder eines geschichtlich-kulturell einheitlichen Europas. Bei der Analyse aller dieser Quellengattungen kommt Kotte stets zu dem gleichen Ergebnis, dass das europäische Geschichtsbild willkürlich erfunden wurde. Das analytische Vorgehen, nach dem die Geschichtsbücher untersucht und diskutiert werden, bleibt dem Leser jedoch verborgen. Zudem schränkt die Vielzahl an Zitaten aus den Geschichtsbüchern den Lesefluss mitunter ein wenig ein, die zahlreichen Beispiele aus den europäischen Unterrichtswerken bereichern die vorliegende Arbeit allerdings auch und dürften nicht zuletzt für Lehrkräfte von besonderem Interesse sein, um einen Vergleich mit dem eigenen, im Unterricht genutzten Lehrbuch zu ziehen.

Die dominierenden nationalen Europavorstellungen der mitteleuropäischen Länder Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn skizziert Kotte im Kapitel fünf, um anschließend die Mitteleuropaidee von ihren Anfängen bis zu den Konzepten der Dissidentenbewegungen nachzuzeichnen (S. 321-396). In diesem Abschnitt weist sich der Autor als doppelter Experte aus, indem er als Geschichtsdidaktiker zugleich Spannendes über osteuropäische Mythen zu berichten weiß.

Als Ergebnis dieser Analyse beschäftigt sich der Verfasser im Kapitel sechs (S. 397-444) mit dem Begriff der europäischen Identität. Ohne ihn konkret zu definieren, verweist er auf die historischen Bezüge während des Sozialisationsprozesses, die zur personalen und sozialen Identitätsbildung beitragen. Daraus leitet er Aufgaben für die historisch-politische Bildung ab und folgert, im Geschichtsunterricht nicht nur die historische Perspektive zu wechseln, sondern die europäische Dimension dadurch zu erreichen, indem auch unterschiedliche Europabilder erörtert werden. Auf dieser Basis entwirft er anhand des polnischen Europabildes einen Unterrichtsvorschlag.

In seinem Resümee auf den Seiten 445-460 fordert Kotte einen komparativen und multiperspektivischen Ansatz im Umgang mit Europa als Unterrichtsgegenstand ein, der stärker in den Geschichtsunterricht integriert werden solle, damit Schülerinnen und Schüler Feindbilder und nationale Stereotype erkennen und überwinden. Diese Erkenntnis ist jedoch bei weitem nicht neu, da bereits Hartmut Voit 1992 auf die anthropologische Perspektive verwies, die er für die Überwindung von Feindbildern auf der erzieherischen Ebene für notwendig erachtete.1 Demnach sind sowohl Nationalstaaten als auch supranationale Organisationen wie die Europäische Union auf die Deutung von Geschichte durch die Behauptung einer Eigengeschichte und die Abgrenzung gegenüber anderen Institutionen angewiesen, um sich zu stabilisieren. Dagegen steht jedoch die Vielfalt-These2, die aufgrund von Spannungen zwischen dem Anspruch nach Unität und der realen Pluralität in Europa zur Intensivierung zivilgesellschaftlicher Diskurse auf der Basis von Toleranz beigetragen hat.

Lehrende in der historisch-politischen Bildung finden zwar kaum konkrete Hinweise zur Unterrichtsgestaltung, die ein europäisches Bewusstsein bei Schülern fördern könnten, jedoch interessante Denkanstöße und Ansätze, dass die kulturelle Vielfalt Europas für das historische Lernen gewinnbringend zu nutzen ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu Voit, Hartmut, Deutsch-deutsche Feindbilder: Die Darstellung der „anderen“ im Geschichtsunterricht des geteilten Deutschland, in: Mütter, Bernd; Uffelmann, Uwe (Hrsg.), Emotionen und historisches Lernen. Forschung – Vermittlung – Rezeption. Frankfurt am Main 1992, S. 103.
2 Joas, Hans; Wiegandt, Klaus (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 2005.

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